Im Standardwerk "Notfallpsychologie" von Lasogga und Gasch (2011) wird diese Teildisziplin der Psychologie definiert als

"die Entwicklung und Anwendung von Theorien, Methoden und Maßnahmen der Psychologie sowie ihrer Nachbardisziplinen bei Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen, die von Notfällen direkt oder indirekt betroffen sind. Sie wendet sich sowohl an die Opfer als direkt Betroffene als auch an indirekt Betroffene wie Angehörige, Augenzeugen, Zuschauer, aber auch an Helfer und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Sie umfasst Präventions-, Interventions- und Nachsorgemaßnahmen bezogen auf einen relativ kurzen Zeitraum."

Notfälle werden dabei ganz bewusst sehr breit aufgefasst als

"Ereignisse, die aufgrund ihrer subjektiv erlebten Intensität physisch und/oder psychisch als so beeinträchtigend erlebt werden, dass sie zu negativen Folgen in der physischen und/oder psychischen Gesundheit führen können."

Bei solchen Notfällen muss also nicht zwangsweise Notarzt und Rettungsdienst beteiligt sein. Es können vielfältige Situationen und Erlebnisse sein, die das Potential haben, Menschen psychisch "aus der Spur zu werfen" - vom sexuellen Übergriff bis hin zu einer Naturkatastrophe. Auch kann dieselbe Situation von der einen Person als Notfall betrachtet werden, während andere Personen sie auch als nur wenig belastend erleben können. 

 

       

 

Zusammen mit der Trauma-Psychotherapie bildet die Notfallpsychologie die Psychotraumatologie - als Teildisziplinen, die sich mit der Versorgung von traumatisierten Menschen beschäftigen. Im Gegensatz aber zur Trauma-Psychotherapie, die die Heilung manifestierter Traumafolgestörungen zum Ziel hat (und dementsprechend erst mit einem Abstand von mehreren Wochen bis Monaten vom Notfallereignis durchgeführt wird), arbeitet die Notfallpsychologie auf salutogenetischer Basis. Die vielfältigen Reaktionsweisen von betroffenen Menschen nach Notfallereignissen werden von Notfallpsycholog*innen grundsätzlich nicht als Ausdruck einer psychischen Störung bzw. Erkrankung betrachtet, sondern zunächst als "normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis". Es kann deshalb in den ersten Stunden, Tagen und Wochen nach dem Ereignis noch nicht beurteilt werden, ob eine tatsächliche psychische Traumatisierung der Person stattgefunden hat. Aus diesem Grund findet auch zunehmend der Begriff des "potentiell traumatischen Ereignisses" Einzug in Forschung und Praxis. Dementsprechend beraten und begleiten Notfallpsycholog*innen Betroffene auf ihrem Weg, ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren und die Entwicklung einer eventuellen späteren Traumafolgestörung zu verhindern.

 

 

 

Quellen:

Lasogga, F., & Gasch, B. (Eds.). (2011). Notfallpsychologie: Lehrbuch für die Praxis. Springer-Verlag.